
Die koloniale Amnesie in der Debatte um Rassismen in Kinderbüchern
Verlage, die Kinderbücher auf rassistische Begriffe und Bilder überprüfen, seien Verfechter_innen einer übertriebenen political correctness und betrieben Geschichtsklitterung, schreibt die ZEIT in ihrer aktuellen Ausgabe. Kinder könnten nachvollziehen, „dass das Wort „Neger“ früher etwas anderes bedeutete als heute“, erläutert der Psychologe Hartmut Kasten im Interview. Und Ulrich Greiner räumt ein, dass der Begriff „heute […]ein herabsetzender Begriff“ sei. Warum nur heute? Waren Begriffe wie „Negerbaby“ und „Negerkönig“ beim Erscheinen der Kinderbücher nicht rassistisch? fragt sich die Leserin.
In der Nicht-Beantwortung dieser Frage spiegelt sich die eigentliche Problematik wider. Weder im Interview noch in einem der anderen drei Artikel wird auf die historische Dimension der debattierten Konzepte eingegangen. Damit führt die ZEIT unwillkürlich das Grundproblem der Rassismusdebatte in Deutschland vor, nämlich die Amnesie unserer Gesellschaft in Bezug auf den Zusammenhang von Rassismus und Kolonialismus.
Kinderbuchautor_innen wie Astrid Lindgren oder Michael Ende bedienten sich beim Schreiben ihrer Bücher lediglich des Alltagsvokabulars ihrer Zeit, Mitte des 20. Jahrhunderts. Sie hatten wahrscheinlich nicht das Bewusstsein, damit jemanden zu diskriminieren. Denn zu Zeiten der formalen europäischen Kolonialherrschaft repräsentierten diese Begriffe in Europa allgemein anerkannte Kategorien, Menschen einzuschätzen und die Welt zu ordnen. Sprache ist aber nicht neutral und unschuldig. Begriffe wie „Neger“ „Eingeborene“, „Häuptlinge“ etc. waren Wortschöpfungen, die durch Sprache fundamentale, scheinbar natürliche Unterscheidungen zwischen Menschen mit unterschiedlicher Hautfarbe konstruiert haben. Während Europäer_innen in der Regel entsprechend ihrer Herkunftsorte als Europäer_innen, Deutsche oder Briten bezeichnet wurden, bezeichneten die Europäer_innen Afrikaner_innen entsprechend eines einzigen morphologischen Merkmals, nämlich ihrer Hautfarbe. Damit wurden nicht nur alle Menschen mit dunkler Hautfarbe über einen Kamm geschert, sondern sie wurden auf biologische Merkmale reduziert. Wissenschaftler_innen bemühten sich, zusätzliche biologische Unterschiede zu finden und diese mit kulturellen Eigenschaften zu verbinden, sodass mit dem „Neger“ schließlich ein Wesen konstruiert wurde, das das Gegenstück zum „Europäer“ war und im Vergleich zu ihm defizitär war, und zwar sowohl in Bezug auf physische wie mentale Merkmale bis hin und kulturellen Lebensweisen.
Während der deutschen Kolonialherrschaft über Gebiete in Afrika und in der sog. Südsee erfüllten diese europäischen Vorstellungen in Europa eine herrschaftslegitimierende Funktion. Denn es war gegenüber der deutschen Öffentlichkeit viel einfacher zu rechtfertigen, warum sich die Menschen in den Kolonien nicht selbst verwalten oder unter menschenunwürdigen Bedingungen auf Plantagen arbeiten sollten, wenn anerkannt war, dass diese Menschen physisch, mental und kulturell minderwertig seien. Wenn sich die europäischen Gesellschaften daheim nun mit Geschichten über „Negerkönige“ und lustige „Neger“ amüsierten, wurden koloniale Situationen bagatellisiert und gleichzeitig legitimiert. Pippi Langstrumpfs Vater, der König der „Taka-Tuka-Neger“, repräsentiert einen jovialen weißen Abenteurer und Kolonialherrn, der seine Untertanen mit harter Hand regiert – und ist ein Sympathieträger im Buch. Die Figur des Ephraim Langstrumpf bedient die koloniale Vorstellung, jeder dahergelaufene Weiße könne die Einwohner_innen der Kolonien besser regieren als sie selbst. Pippis Vater wird von den „Taka-Tuka-Negern“ gekrönt, weil er weiß ist und eines Tages zufällig auf deren Insel auftaucht.
Dennoch waren wahrscheinlich nicht alle Europäer_innen, die diese Bilder konsumierten und diese kolonialen Begrifflichkeiten in ihr Alltagsvokabular integrierten, „böse“ Menschen. Sie hätten wahrscheinlich auch den nächsten Schwarzen, den sie getroffen hätten, nicht gleich erstochen. Sie lebten vielmehr in einer Welt, die sie mit rassistischen Begriffen beschrieben und mithilfe rassistisch geprägter Denkkategorien einordneten. Viele grausame Kolonialkriege riefen keine Kritik in Deutschland hervor, weil kommuniziert wurde, die Bewohner seien wild geworden und man habe sie disziplinieren müssen. Solche Legitimationsdiskurse funktionieren nur, wenn die Menschen bereits in eine „entmenschlichte“ Kategorie geschoben wurden.
Leider befindet sich unsere Gesellschaft nicht in einer Situation, in der wir Kolonialismus und Rassismus überwunden haben und in der jedes Kind Kinderbücher historisch-kritisch einordnen kann. Kolonialgeschichte und Kolonialismus sind noch viel zu oft exotische Randthemen in deutschen Klassenzimmern und über die ehemaligen Kolonien werden stetig neue Stereotypen von Unterentwicklung und Krisenkontinenten erzeugt.
Gleichzeitig lässt sich an der Debatte ablesen, wie in Deutschland lebende schwarze Menschen regelmäßig gedanklich übersehen und aus der Norm ausgeklammert werden. Gestehen die ZEIT-Autor_innen Kindern die Fähigkeit zu, rassistische Begriffe selbstkritisch einzuordnen, so scheint sich dahinter ein einseitiges Bild der Leser_innenschaft zu verbergen. Würden sie genauso argumentieren, wenn sie schwarze Kinder als selbstverständliche Rezipient_innen der Kleinen Hexe mitdenken würden?
Unsere Gesellschaft ist heute nicht frei von Rassismen oder diskriminierenden Denkmustern, aber immer mehr Menschen versuchen, sie zu hinterfragen. Wenn nun einige Verlage verstanden haben, dass die obe genannten Begriffe Bezeichnungen für Denkkategorien sind, die trennende Kategorien zwischen Menschen errichten, die wir aufbrechen wollen, dann ist das ein guter Anfang. Über das Wie können und müssen wir diskutieren. Es gibt eine Menge von Möglichkeiten. Über kritische Einleitungen, Infokästen, Fußnoten etc. können Änderungen so angebracht werden, dass die Originalworte nicht einfach ersetzt werden, sondern lesende Kinder und vorlesende Eltern zum Hinterfragen und Diskutieren angeregt werden.
Caroline Authaler, Januar 2013
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