
Diszipliniere deinen Körper!
Mein Haus, mein Auto, mein Körper – längst ist der eigene Körper zu einer Art Kapital geworden. Wirtschaftliche Leistungsvorstellungen und gesellschaftliche Schönheitsideale erfordern eine ständige Selbstdisziplinierung und –optimierung. Wir gehen hier auf historische und gegenwärtige Spurensuche zum Phänomen Bodyismus.
Ich hab’ Rücken. Und Knie. Und wie viele Büroheld_innen unserer Zeit überwinde auch ich schließlich meine Bedenken und wage den Schritt hinein in die Welt der Schönen, Fitten und Glücklichen – jedenfalls verspricht mir dies die Internetseite meines neuen Fitnessstudios.
Ein Fitnessstudio ist ja schon eine spezielle Umgebung. Da stehen, sitzen oder liegen Menschen auf Maschinen oder hüpfen auf der Stelle einer_m Trainer_in nach. An der Bar trinkt ein junger Mann etwas, das an die Vanillemilch aus Grundschulpausen erinnert. Aha, ein Eiweißshake! Wofür mensch so was braucht? Der Mucki-Mann erklärt: „Um die Muskeln mit Eiweiß zu versorgen. Und Frauen trinken das, wenn sie weniger essen und trotzdem satt werden wollen.“ Weshalb ich weniger essen sollte, verrät mir sogleich ein sogenanntes Sommer-Spezial-Angebot: um mich „in Form zu bringen“.
Bodyismus: der Körper als soziales Konstrukt
Die Bloggerin Nicole von Horst schreibt: „Ich habe bereits eine Form. Ich falle nicht auseinander“ und macht uns damit auf wunderbar einfache Art bewusst, wie sehr unsere Wahrnehmung von gesellschaftlichen Idealvorstellungen in die Irre geführt wird. Denn mal ehrlich, wir wissen, welche Körperform als erstrebenswert gilt und Anerkennung findet – und welche nicht. Wie wir Körper wahrnehmen, und was wir an ihnen schön oder hässlich finden, ist keine Frage des individuellen Geschmacks sondern wird zu großen Teilen durch gesellschaftliche Wert– und Normvorstellungen bestimmt. Eine Norm der Körperform! Deshalb kann mensch auch sagen, der Körper ist, so wie wir ihn erleben, ein soziales Konstrukt. Schönheitsvorstellungen und die damit zusammenhängenden Körperbilder sind eben keine Privatangelegenheit, die wir uns bewusst aussuchen oder einfach so ablegen können. Bodyismus nennt sich dieses Phänomen: Wir bewerten uns und andere Menschen anhand der äußeren Erscheinung, verknüpfen diese Erscheinung mit bestimmten Charaktereigenschaften – fleißig und diszipliniert oder faul und inkompetent – und lassen diese Bewertung, teils unbewusst, unser Verhalten beeinflussen. So entsteht strukturelle Diskriminierung, die sogar zu schlechteren Berufschancen oder gar sozialer Ausgrenzung führt.
Diese gesellschaftlichen Normen, die mich auf der Straße nicht nur von Werbeplakaten anschreien, sondern auch durch die prüfenden Blicke anderer Frauen und Männer erreichen, verdichten sich nun hier im Fitnessstudio. Übergroße Plakate von Frauen und Männern mit muskulösen Oberkörpern und glänzenden Haaren und die vielen Spiegel an den Wänden führen mir vor Augen, wie ich nicht aussehe. Das glückliche Lächeln in den Gesichtern der Werbefiguren begleitet von Botschaften wie „Stark und ausgeglichen durch´s Leben“ suggeriert mir aber, dass ich doch genau dies will! Hier werden Bedürfnisse geweckt und gebündelt: Glück, Erfolg, Stärke, Ausgeglichenheit, Schönheit und Sex-Appeal. Der optimale Weg dorthin wird gleich mit angeboten: Sport, Diät, Eiweißshake! Ist ganz einfach, just do it!

Quelle: Women. A Pictorial Archive from Nineteenth-Century Sources. Selected by Jim Hartner. Dover Publ. 1978.
Ein Blick zurück in die Geschichte der körperlichen Disziplinierung
Das Fitnessstudio ist in den letzten Jahrzehnten zu der zentralen zivilgesellschaftlichen Institution für Arbeit am Körper geworden. Hier wird mit Hilfe von Geräten, Trainingsplänen und Ernährungsberatung die menschliche Form entsprechend der Idealvorstellungen, die Medien und Marken vorgeben und von den Menschen immer wieder unkritisch weitergegebenen werden, geformt und genormt. Dass diese Vorstellungen sich im Laufe der Jahre gewandelt haben, wissen alle, die schon mal in einer Gemäldegalerie waren. Wer findet die Mona Lisa heute noch so unvergleichlich schön? Bilder vom perfekten, schönen Körper sind geprägt von den politischen und wirtschaftlichen Machtstrukturen der jeweiligen Epochen.
Ein Blick in die Geschichte zeigt aber nicht nur sich verändernde Körperbilder, sondern entschlüsselt auch die dahinter liegenden Interessen und Funktionen. Bis ins 18. Jahrhundert galt die äußere menschliche Gestalt als gottgegeben und die soziale Stellung als von Geburt an festgelegt. Als das aufstrebende Bürgertum aber gegen die starre Gesellschaftsform des Feudalismus aufbegehrte, fand diese Auseinandersetzung auch auf der Ebene der Körper statt. Der Körper wurde nun als Ausdruck der individuellen Tüchtigkeit, und damit der Leistungsbereitschaft und moralischen Lebensführung betrachtet. An die Stelle der Beherrschung durch die oberen Stände traten Techniken der individuellen Selbstbeherrschung: Menschen sollten sich ihre soziale Stellung von nun an durch Tugenden wie Fleiß und Sittsamkeit selbst erarbeiten.
Diese leistungsbezogene Disziplinierung des Körpers galt allerdings vor allem für Männer. Frauen wurde von der männlich dominierten Gesellschaft weiterhin eine leistungsunabhängige Rolle im Privaten und in der Familie zugewiesen. Aber auch ihre Körper wurden, sobald in der Öffentlichkeit sichtbar, mittels modischer Erscheinungen wie dem Korsett oder hohen Schuhabsätzen in seiner Freiheit beschränkt. Dadurch wurde Weiblichkeitsvorstellungen von Anmut und Zurückhaltung entsprochen und Frauen auf ihre familiäre Rolle im Privaten verwiesen. Der Mann konnte damit ungehindert Politik, Wirtschaft und die Öffentlichkeit als Domänen für sich behaupten und langfristig absichern. Wirtschafts– und geschlechterpolitische Herrschaftsverhältnisse wurden so in die Körper eingeschrieben.
Der moderne Nationalstaat ist seit seiner Entstehung an der Steuerung der Bevölkerungsentwicklung und der Kontrolle der Körper seiner Bürger_innen interessiert. Erst dadurch wurde es möglich, abstrakte politische Ideale und Zielvorstellungen von der Ebene der Rationalität auf die der Gefühle und der Sinnlichkeit auszudehnen. Der französische Philosoph Michel Foucault prägte dafür den Begriff Biopolitik. Die individuelle Wahrnehmung des Körpers und die Arbeit, die mensch in ihn investiert, sind nicht ohne die dahinter liegenden biopolitischen Interessen zu verstehen. Im Laufe des 19. und vor allem des 20. Jahrhunderts betrachteten die westlichen Nationalstaaten ihre Bürger_innen zunehmend als Ressource militärischer und wirtschaftlicher Stärke. Mit Hilfe wissenschaftlicher Techniken sollte die Bevölkerungsentwicklung gesteuert und verbessert werden. Dabei ging es vor allem um die Aussonderung von Personen, die diesen Idealen nicht entsprachen. Die aufkommende Eugenik hatte zum Ziel, sogenannte volksschädigende Menschen, zum Beispiel Menschen mit geistiger Behinderung, Drogensüchtige oder Kranke, aus dem gesellschaftlichen Fortpflanzungskreislauf auszuschließen.
Willkommen in der neoliberalen Gegenwart der Schönen und Erfolgreichen
Seit einigen Jahrzehnten verlagert sich die Deutungshoheit über die Körperbilder vom Staat auf die Marktwirtschaft. So können sich alle Menschen aus einem riesigen Angebot ihren individuellen Stil zusammenstellen. Dabei geht es längst nicht nur um die Kleidung, sondern der ganze Körper wird zunehmend als form– und wandelbar wahrgenommen. Beispiele davon reichen von Sonnen– und Tattoostudios über Ernährungsberatungen und Sportangebote bis hin zu Schönheitsoperationen. Drumherum hat sich eine ganze Schönheitsindustrie entwickelt. Dieses neue Bild von einem Köper, der mit ein bisschen Willenskraft ständig optimiert und verändert werden kann, entspricht der neoliberalen Ideologie und ihrem Ideal des unternehmerischen, kreativen und dynamischen Individuums, das sich flexibel den Gegebenheiten des Marktes anpasst. Frei nach dem Motto „In einem gesunden Körper steckt auch ein gesunder Geist“, heißt es nun: „Nur in einem jungen sportlichen und disziplinierten Körper steckt auch ein leistungsstarker, disziplinierter Geist“ – auf einmal ist er da, der neue Sündenbock: der innere Schweinehund. Wer ihn nicht überwinden kann, ist selbst schuld. Ganz selbstverständlich wird dem dicken Mitarbeiter auch gerne mal langsames Arbeiten unterstellt – und bestimmt ist er auch viel häufiger krank. Auch hier geht es darum, beruflichen Erfolg nicht nur zu haben, sondern ihn auch zu verkörpern.
War im 18. und 19. Jahrhundert der Bereich des Öffentlichen noch den Männern vorbehalten, eroberten im Laufe der 1970er und 80er Jahre immer mehr Frauen den Arbeitsmarkt und das öffentliche Leben und forderten gleiche Rechte ein. So gerieten auch sie ins Zentrum neoliberaler Körperdisziplinierung. Gleichzeitig stellen diese geschlechterpolitischen Veränderungen auch heute noch eine Bedrohung der männlichen Vorherrschaft da. Es ist also kein Zufall, dass gerade in dieser Zeit das Ideal des Magermodels, siehe Twiggy, entstand. Mit zunehmender politischer, familiärer und ökonomischer Unabhängigkeit nahm auch die Regulierung und Normierung des weiblichen Körpers zu. So ist es fast schon absurd, dass frau inzwischen offiziell zu allen gesellschaftlichen Räumen die gleichen Zugangsrechte besitzt, jedoch einmal dort angekommen, möglichst wenig Platz einnehmen darf — „Bauch einziehen, Mädels!“.
Macht, Ausgrenzung und Privilegien
Bei Bodyismus geht es, wie bei den meisten anderen Ismen auch, um Machtverhältnisse, Ausgrenzungen und Privilegien. Unter dem Deckmantel vermeintlich individuellen Geschmacks kommt es schnell zu struktureller Diskriminierung all jener, die nicht nach der Norm streben oder sie erfüllen, und zur Privilegierung der ‚Schönen’ und ‚Disziplinierten’. So ist zum Beispiel seit längerem bekannt, wie mit dem Aussehen die Chancen auf dem Arbeitsmarkt steigen oder fallen, so dass mehr und mehr reflektierte Arbeitgeber_innen Bewerbungen ohne Fotos anfordern, um gleiche Chancen zu ermöglichen. Schönheit als Schlüssel zu Aufstiegschancen und gesellschaftlicher Macht bleibt all jenen verwehrt, die nicht die ‚richtigen‘ biologischen Anlagen mitbringen oder die finanziellen und zeitlichen Ressourcen nicht dafür aufbringen können oder wollen, nach der Schönheitsnorm zu streben.
Ich finde mich schön. Oder besser: Ich fand mich schön — bis zu jenem Moment als ich das Fitnessstudio betrat. So wie mir geht es gefühlt 99,5 Prozent der Bevölkerung. Auch hier kann Foucault helfen. Er fand heraus, dass das heute noch aktuelle männliche Körperideal stark durch antike griechische Statuen geprägt wurde. Modell standen damals Athleten – Männer also, die den lieben langen Tag nur Sport trieben. Für Otto Normalarbeiter undenkbar. Ähnlich utopisch ist es für Frauen: entweder vollbusige Sexbombe (auch nach der Geburt dreier Kinder!) oder elfenhafte, vorpubertäre Mädchengestalt (ebenfalls auch noch nach der Geburt dreier Kinder). Geht doch gar nicht. Soll ja auch gar nicht. Denn wenn Schönheitsideale erreichbar wären, würde die Industrie irgendwann nichts mehr verkaufen. Aber anstatt einfach die Norm zu hinterfragen, stellen wir uns tagtäglich selbst infrage. Wir verbringen unsere Zeit mit Sport, Shopping oder Friseurbesuchen, anstatt die Weltherrschaft zu erobern. Wie bescheuert ist das eigentlich? Ich finde mich wieder schön. Basta!
Jan Diebold und Friederike Faust, Juli 2013
[Dieser Artikel ist zuerst erschienen in Die Preziöse 2/2013]