
Ein Interview zum Thema „Behinderung“ mit Stefan Lieven
schwarzweiss sprach mit dem Psychotherapeuten Stefan Lieven über Identitätsprobleme, die aus einer Behinderung heraus resultieren können. Stefan Lieven arbeitet als psychologischer Psychotherapeut in einer Gemeinschaftspraxis in Berlin. Als Coach berät er zudem Assistenznehmer_innen, die Schwerbehindertenassistenz beziehen. Er ist selbst seit einem Unfall hochquerschnittsgelähmt.
schwarzweiss: Stefan, du arbeitest psychotherapeutisch mit Menschen, die von einer „Behinderung“ betroffen sind. Was bedeutet „Behinderung“ für dich?
Stefan: Eine Behinderung stellt für mich erst einmal nur eine Andersartigkeit dar. Ich nenne es bewusst andersartig, um von dem Begriff Normalität und folglich unnormal wegzukommen. Zum Beispiel kann man, wenn man im Rollstuhl sitzt, keine Treppen überwinden oder manche Türen nicht passieren. Eine Behinderung bringt nun mal verschiedene Andersartigkeiten mit sich, die wohl auch keiner abstreiten möchte. Das muss per se jedoch nichts Negatives sein, zum Beispiel bewerten kleine Kinder in der Regel einen Rollstuhl nicht als ein Problem. Einer meiner Neffen wollte sogar auch immer einen Rollstuhl haben.
schwarzweiss: Ab wann wird Behinderung zu einem „Problem“?
Stefan: Zu einem Problem wird Behinderung, wenn ein Stigma daraus gemacht wird, das heißt, wenn eine negative Bewertung der Andersartigkeit vorgenommen wird. Bleibt man auf einer rein deskriptiven Ebene, würde das Problem eigentlich nicht bestehen. Ich selbst kann zum Beispiel bei der Begrüßung nicht „normal“ die Hand schütteln. Das ist zunächst einmal nur eine Verschiedenheit, wenn man sie nicht gleich zu einer Bewertung macht, dann entsteht kein Stigma daraus.
schwarzweiss: Und wo existiert solch eine Stigmatisierung von Andersartigkeit?
Stefan: Man kann das zum Beispiel am Thema Sex festmachen: Ein Stigma entsteht durch die Vorstellung, dass Sexualität auf eine bestimmte Art und Weise zu sein hat. Weil alles, was davon abweicht, dann als keine beziehungsweise nicht erfüllte Sexualität bewertet wird, wird es zum Problem für jemanden mit einer körperlichen Behinderung.
schwarzweiss: Wie kann sich das konkret auf die Psyche eines/-r Einzelnen auswirken?
Stefan: Nun, es wird vor allem zu einem Problem für Betroffene, wenn sie stigmatisierende und diskriminierende Äußerungen und Handlungen verinnerlichen. So kann man ja von allen möglichen Personen als „Krüppel“ bezeichnet werden, aber man könnte sich hiervon abgrenzen. Es wird erst zu einem Problem, wenn man die Beleidigung annimmt. Natürlich ist es sehr verständlich, eine abwertende Reaktion darauf zu zeigen, gerade wenn man schon im Kindesalter sehr häufig negative Erfahrungen machen muss und hieraus viele Verletzungen resultieren. Doch erst durch das Annehmen oder Übernehmen von Ansichten und Verhalten, die Behinderung diskriminieren, entsteht ein Stigma. Man fängt an, sich selbst zu behindern, indem man sich selbst oder den „behinderten“ Teil von einem selbst abwertet.
schwarzweiss: Wie äußert sich das konkret?
Stefan: Grob kann man drei Verarbeitungsmechanismen ausmachen. Zum einen gibt es vermeidendes Verhalten: Ich tue so, als ob ich nicht behindert bin, und meide den Kontakt mit anderen Behinderten. Daran schließt der zweite Mechanismus an, dass man überkompensiert, weil man meint, dass die Behinderung ein Defizit sei, das man ausgleichen müsse. Das andere Extrem ist, sich selbst total behindert zu machen, also eine Art Unterwerfung, ein Aufgehen in der Rolle des/-r Behinderten, total abhängig zu werden. Natürlich sind das nur grobe Unterscheidungen und meistens durchmischen sie sich auch. Ihnen ist jedoch gemein, dass sie in der Regel wenig hilfreich im Umgang mit der eigenen Behinderung sind.
schwarzweiss: Könnte ein besserer Umgang mit der eigenen Behinderung sein, das eigene Betroffen-Sein zu erkennen und zu verstehen?
Stefan: Ein hilfreicherer Umgang ist meistens mit der Integration des Stigmas verbunden. Jeder muss da für sich einen eigenen Weg finden. Dabei kann es hilfreich sein, sich konkrete Situationen anzuschauen, so kommt man wieder auf eine deskriptive Ebene und kann Kategorien und Bewertungen erkennen, die man selbst vornimmt.
Voraussetzung dafür ist jedoch, zu erkennen, dass man selber das Problem mit der Behinderung hat und dass es einen verletzt, wenn jemand einen als „Krüppel“ bezeichnet. Ich glaube, dass viele an diesem Punkt hängen bleiben, sich gewissermaßen selbst zum Opfer machen und von den bösen Anderen oder der bösen Gesellschaft ausgehen, wegen der sie zum Beispiel von Sozialhilfe leben müssten. Andere bleiben in der Überkompensation stecken und meinen, viel reisen und noch mehr als alle anderen arbeiten zu müssen.
Das alles zu erkennen, ist meist ein sehr schmerzhafter Prozess, und vieles davon ist ins Unbewusste verdrängt worden, weil es mit viel Angst und anderen unangenehmen Emotionen verbunden ist. Und darum kann das „Sich nach innen wenden“ ein Riesenschritt sein, den viele nicht gehen können oder wollen.
In der Therapie ist es dann letztlich das Ziel, Vermeidungsverhalten abzubauen, Unbewusstes bewusst zu machen und dadurch wieder mehr Handlungsspielraum und Kontrolle über das eigene Verhalten zu erlangen.
schwarzweiss: Welche Rolle spielt bei der Therapie, dass du selbst eine Behinderung hast?
Stefan: Zunächst ist meine Praxis halbwegs barrierefrei, was häufig nicht der Fall ist und auch wiederum eine Art von behindert werden ist. Aber sicherlich auch in dem Punkt Authentizität. Denn die Leute sehen oft selbst ein Problem darin, im Rollstuhl zu sitzen, und fühlen sich wohler bei jemandem, der selbst betroffen ist.
schwarzweiss: Weil du vielleicht die Diskriminierungen nachvollziehen kannst, die individuelle Schwierigkeiten verursachen: Was sind das konkret für Erfahrungen, die deine Patient_innen machen?
Stefan: Zum einen durch Verletzungen von Mitmenschen, sei es durch Eltern, Mitschüler_innen oder Pfleger_innen. Gerade im Pflegebereich gibt es sehr viele „Täter_innen“, die wirklich das Machtmotiv ausnutzen, um Leute zu unterdrücken.
Auf einer anderen Ebene sehe ich Behinderung gerade in der heutigen Leistungsgesellschaft vor dem Stigma, nicht so leistungsfähig zu sein. Leistungsfähig und behindert sind als zwei voneinander abgegrenzte Extreme verknüpft: Wenn man behindert ist, ist man automatisch nicht leistungsfähig. Solche Erfahrungen machen Behinderte häufig auf Ämtern: Sie werden in die Fürsorge eingestuft, wenn sie Assistenz beziehen, was unterstellt, sie könnten nicht selbst für sich sorgen. Und paradoxerweise werden die behinderten Menschen, die finanziell für sich sorgen könnten, weil sie den „normalen“ Berufsweg wählen, von den Ämtern wieder fürsorgebedürftig gemacht, da die Inanspruchnahme von Assistenz beinhaltet, nur über ein begrenztes Einkommen und Vermögen verfügen zu dürfen.
schwarzweiss: Und denkst du, dass sich das verändert? Zurzeit wird ja viel über Inklusion oder das Bundesteilhabegesetz gesprochen.
Stefan: Man merkt auf jeden Fall, dass sich etwas tut, und ich finde das gut. Ähnlich der zunehmenden Entstigmatisierung von Homosexualität in den 1970er und 1980er Jahren, tut sich gerade viel, was das Thema Behinderung angeht; zum Beispiel ist heute schon eher das Verständnis vorhanden, dass jemand, der im Rollstuhl sitzt, auch Manager_in werden kann. Dass so etwas überhaupt gesehen wird, ist ja auch ein Prozess. Oder das begrenzt erlaubte Vermögen und Einkommen wird heute immerhin als ein Problem angesehen, früher wurde es gar nicht gesehen oder Leute mit einer Behinderung wurden schlichtweg als nicht arbeitstauglich beziehungsweise „leistungsunfähig“ abgestempelt.
Dennoch muss noch viel passieren. Leider spielt der Faktor Geld immer eine Rolle. Inklusion stellt nicht immer den kostengünstigsten Weg dar, und das beißt sich häufig mit den Vorstellungen von Politik und Wirtschaft. Dadurch werden viele Prozesse ausgebremst. Auch denke ich, dass das Kategorien-Denken viel mit der deutschen Geschichte zu tun hat. Zum Beispiel hätte man vor 70 oder 80 Jahren aufgrund der Andersartigkeit legitim vom System getötet werden können. Die Vorstellung, dass Menschen mit Behinderung anders zu behandeln sind, ist zum Teil immer noch in den Köpfen und das kann über Generationen hinweg in Form von Vorurteilen und Ängsten weitergegeben werden.
schwarzweiss: Wie könnte es weitergehen?
Stefan: Wie gesagt, denke ich, dass einiges passiert. Es gibt ja tolle Initiativen, wie zum Beispiel die Sozialhelden oder Constantin Grosch, der Unterschriften sammelt, um gegen die gegenwärtige Gesetzeslage der Einkommens– und Vermögensgrenze vorzugehen. Und es ist ja schon ein Bemühen um Inklusion zu sehen. Denn erst durch den gemeinsamen Kontakt von Behinderten und Nicht-Behinderten kann sich ja so eine Art gemeinsame „Normalität“, oder wie man das bezeichnen will, entwickeln. Das Stigma zu dekonstruieren, kann nur ein gegenseitiger Prozess sein.
Das Interview führte Elias Nies.
September 2015