
Europa rückt nach rechts
Populistische Wahlkampfparolen, fragwürdige Ausweisungen, marschierende Rechtsradikale: der Rassismus nimmt Europa in seine Fänge. Grenzen entstehen wieder, wo sie längst aufgehoben waren. Zwischen Ländern, aber auch in den Köpfen der Menschen. So konstatierte László Andor, EU-Kommissar für Beschäftigung, Soziales und Integration, während Ungarns EU-Ratspräsidentschaft 2011: „Tagtäglich erreichen uns alarmierende Informationen, dass fremdenfeindliche und rassistische Tendenzen in den Mitgliedsstaaten auftauchen.“ Leidtragende damit einhergehender Menschenrechtsverletzungen sind zuallererst Europas Minderheiten. Oder wie Massimo Introvigne, Antidiskriminierungs-Beauftragter der OSZE, jüngst formulierte: „Krisenzeiten sind schlechte Zeiten für Minderheiten“. Diese leiden vor allem unter Abschiebung, Diskriminierung und Gewalt.
Mit zwölf Millionen Menschen, so schätzt die Europäische Kommission, bilden die Roma Europas größte Minderheit und die am meisten diskriminierte zugleich. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und während der Kriege im ehemaligen Jugoslawien flüchteten allerdings viele nach Westeuropa. Unicef rechnet allein mit 50.000 Flüchtlingen, davon etwa 20.000 Kinder, aus den damaligen Kriegsgebieten, die heute teilweise auch in Deutschland leben. Nur mit begrenzter oder aber ohne Aufenthaltsgenehmigung werden sie regelmäßig abgeschoben, nachdem die Bundesregierung 2010 mit dem neu gegründeten Staat Kosovo ein Rückführungsabkommen geschlossen hat . In den kommenden Jahren müssen rund 12.000 Roma Deutschland verlassen, über die Hälfte davon Kinder und Jugendliche.
Die Arbeitslosigkeit unter Roma beträgt im Kosovo nahezu 100 Prozent. Viele Kinder, die in Deutschland aufgewachsen sind und hier leben, sprechen kein Albanisch. In Deutschland sind sie dagegen überwiegend gut integriert. Laut einer Unicef-Studie vom Juli 2010 verletzt die Abschiebung dieser Kinder die UN-Kinderrechtskonvention. Ist doch der Zugang zu Bildung, Arbeit, Wohnraum und zur Gesundheitsvorsorge im Kosovo für sie nur begrenzt oder gar nicht möglich.
Nur zu gut in Erinnerung sind auch noch die Ausweisungen von Roma aus Frankreich, mit der die Regierung Sarkozy letztes Jahr europaweit Empörung hervorrief. EU-Justizkommissarin und Vizepräsidentin der Kommission, Viviane Reding, stellte damals die Rechtmäßigkeit dieser Vorgehensweise in Frage und unterwarf sie einer Prüfung, schienen doch europäische Verträge wie die Freizügigkeitsrichtlinie und die Grundrechtecharta verletzt. Das Ergebnis: Die französische Regierung nahm am 16. Juni 2011 von der Kommission geforderte Gesetzesänderungen an, die die Einhaltung der Freizügigkeitsrichtlinie gewährleisten. Dazu gehören auch Bestimmungen, die EU-Bürger gegen willkürliche Ausweisungen oder diskriminierende Behandlung schützen sollen. Gegen Deutschland und andere Mitgliedsstaaten wurden auf Grund nicht ausgeräumter Differenzen Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet.
Aber auch die Zunahme rechtsradikaler Gruppierungen in den einzelnen Mitgliedsländern ist eklatant. Ereignisse wie in dem ungarischen Dorf Gyöngyöspata vergangenen April oder momentan in Tschechien und Bulgarien, wo ein tödlicher Verkehrsunfall und lokale Rivalitäten schwere Spannungen zwischen Roma und der Bevölkerungsmehrheit im ganzen Land auslöste, sind nur vereinzelte Zeichen einer allzu deutlichen Tendenz. In Bulgarien sind Ausschreitungen, Brandanschläge, Kämpfe mit der Polizei und Festnahmen die Folge.
In Gyöngyöspata marschierten rechtsextreme Verbände mit rassistischen Parolen gegen die etwa 500 im Ort lebenden Roma auf. Das Auftreten war martialisch: die Rechtsradikalen trugen Uniformen und patrouillierten durch die Straßen. Sie kontrollierten eigenmächtig Dorfbewohner und verweigerten Roma den Zugang zu bestimmten Straßen. Kinder wurden eingeschüchtert. Es kam zu Auseinandersetzungen. Wehrsportübungen wurden in direkter Nachbarschaft der Roma-Häuser abgehalten. Schließlich wurden die Frauen und Kinder der Roma vom ungarischen Roten Kreuz über Ostern vorübergehend evakuiert.
Das alles scheint EU-Kommissar Andors These eines zunehmenden Rassismus in Europa zu bestärken. Offenbar bildet die anhaltende Finanzkrise der letzten Jahre eine Ursache. Der ungarische Philosoph Gaspar Milkòs Tamás beschreibt diesen Prozess: „Der Lebensstandard ist abgestürzt, die Arbeitszeit wurde für die noch Beschäftigten verlängert, und Arbeitslosigkeit grassiert überall (…). Viele Menschen hungern, und dass ist etwas, was sie nicht kennen. (…) Was die politischen Konflikte hier bestimmt, ist ein verzweifelter Kampf um schwindende Staatsressourcen. Es ist ein Kampf zwischen der Mittelschicht und den Übrigen. Das ist die Basis für die Rechtsradikalen.“ Tamás erkennt eine Strategie der Rechten darin, „den Konflikt über Kriminalisierung und das Schüren von Rassismus auszutragen.“ Und auch die EU-Kommission konstatiert vor allem in Hinblick auf die Freizügigkeitsrichtlinie, dass „in wirtschaftlich schwierigen Zeiten einige Mitgliedstaaten möglicherweise versucht sind, Maßnahmen zu ergreifen, die diskriminierende Auswirkungen auf EU-Bürger oder ihre Familienangehörigen haben.“ Es scheint, die Europäer flüchteten sich in einen längst überwunden geglaubten Nationalismus, der im schlimmsten Fall zu einem Rassismus eskaliert, der die europäischen Werte ernsthaft gefährdet. Und zunehmend Menschenleben kostet.
Tatsächlich bestätigen die Wahlergebnisse rechter Parteien den Rechtsruck während der Finanzkrise: Lag die rechtsradikale Partei Jobbik bei den ungarischen Parlamentswahlen 2006 noch bei 2,2 Prozent der Stimmen, bescherten ihr die EU-Parlamentswahlen im Juni 2009, wie anderen nationalistischen Parteien auch, massive Zugewinne. Allein in Ungarn erhielt Jobbik fast 15 Prozent der Stimmen. In Rumänien, der Slowakei und Bulgarien, aber auch in Westeuropa sind ähnliche Entwicklungen zu beobachten. Etwa in Dänemark, Italien, den Niederlanden und Österreich.
Diesen Zuständen will die EU nicht länger tatenlos zusehen, sondern mit einem eigenen Rahmenprogramm als Richtschnur für die nationale Politik und der Mobilisierung von EU-Mitteln zumindest gegen den Rassismus gegenüber Roma angehen und die Gleichberechtigung der Minderheit fördern. Die Europäische Kommission sieht vor, dass die Mitgliedstaaten je nach Größe der in den einzelnen Gebieten lebenden Roma-Bevölkerung Maßnahmen in vier zentralen Bereichen ergreifen sollen: Bildung, Wohnraum, Gesundheitsfürsorge und Beschäftigung. Dies fordert aktuell auch die OSZE. Auch wenn dafür in erster Linie die Mitgliedstaaten oder die Regionen zuständig sind, so kommt der EU doch eine wichtige Unterstützungsrolle zu. Alle Mitgliedsstaaten müssen bis Jahresende eine Integrationsstrategie vorlegen, deren Umsetzung jährlich von der EU-Kommission geprüft wird.
Zwar hat die Europäische Union bereits Gesetze zum Schutz der Roma und anderer Minderheiten erlassen. Nach Ansicht der EU-Kommission werden sie aber nicht konsequent eingehalten. Das soll sich jetzt ändern. Nachdem das Rahmenprogramm zur Integration der Roma beim Europäischen Gipfel am 25. Juni 2011 verabschiedet wurde, müssen die Mitgliedstaaten nun ihre Pläne ausarbeiten, Regierungen, NGOs und Kirchen auf nationaler Ebene kooperieren. EU-Kommissar Andor erinnerte, dass Integration in der Kompetenz der Mitgliedstaaten liege. Das neue Rahmenprogramm werde EU-Mittel aber leichter verfügbar machen und vor allem die regionale und lokale Ebene in den Blick nehmen. Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma begrüßt diese Initiative. „Der Erfolg“, so Romani Rose, Vorsitzender des Zentralrats, „hängt aber von der Umsetzung ab.“
Armin Ulm, 2011
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