
Grenzen innerhalb der Stadt: Site in Istanbul
Dank seiner Stadtmauer wurde Konstantinopel im Mittelalter für die stärkste Feste gegen Feinde gehalten. Heute, 15 Jahrhunderte später, kann man an den Ruinen noch ihre imposante Struktur erkennen. Doch die auffälligsten Mauern von Istanbul im neuen Jahrtausend sind keine Stadtmauern, sondern umgeben einzelne Wohnsiedlungen. Auf Türkisch heißen sie „Site“ (aus d. Franz. Cité). Sie sind der neueste Trend im lokalen Immobilienmarkt.
Als sie nach Istanbul kam, wurde die Englischlektorin Anne S. überrascht. Sie dachte, dass es Gated Communities nur in ihrer alten Heimat gebe. Aus Texas kam sie nach Istanbul, um an der Koç-Universität zu arbeiten. Über einen Makler mietete sie sich eine Wohnung abseits vom Zentrum Istanbuls, in Etiler, in einer geschlossenen Wohnanlage. Ihr fiel es nicht schwer, das als modern angepriesene Etiler dem unter Touristen beliebten Stadtviertel Fatih vorzuziehen. Das historische, traumhafte und nostalgische Fatih hat zwar seine charmevolle Vergangenheit, doch Etiler ist mit der Metro vernetzt und mit Einkaufszentren versorgt; „Etiler ist die Zukunft“, wurde ihr gesagt. Die Zukunft, die das türkische Wirtschaftswachstum von 8% widerspiegelt. Die Zukunft, die Wohlstand verspricht – aber nur für einige.
Anne hatte aus ihrer Wohnung einen Blick auf den Bosporus; auf dem Dach ihres Hochhauses konnte· sie im Pool baden und sich ungestört sonnen, im Supermarkt im Erdstock gab es Dijon-Senf und Baileys; ein Spielplatz und ein Kino waren auch vorhanden. Nicht zuletzt waren die vier Blockhäuser, die die “Bogazici Evler” (Bosporus-Häuser) Wohnanlage bildeten, überwacht; die Wohnanlage umrahmte eine Mauer mit Gitterstäben, Stacheldraht und Sicherheitskameras, 4–5 Sicherheitsbeamte kontrollierten den Eingang.
Eine ideale Stadt, genau wie sie in der Werbung angepriesen wurde: Ein ideales Umfeld um Kinder im Kreise von anderen ausgewählten Familien aufzuziehen. Alles, was man braucht, ist in der Nähe: 5 Minuten bis zur Akmerkez-Mall, 15 Minuten bis zur Bosporusbrücke, 20 Minuten bis zur Innenstadt. Anne fand die kleine Wohnsiedlung nett, sauber, sicher aber die Bewohner sprachen kaum mit ihr sondern nur mit ihrem Smartphone. Die physischen Grenzen der „Bogazici Evler“ zeigten Anne die soziale Trennung in der Gesellschaft. Indem die Bewohner sich mit ihresgleichen zurückziehen, erschaffen sie sich eine tadellose künstliche Stadt, die der Sunshine City aus dem Film „Die Truman Show“ ähnelt. Armut gibt es hier nicht. Sie bleibt vor den Toren – und damit auch die soziale Verantwortung.
Morgens stieg Anne in einen privaten Minibus, der sie von der Haustür direkt zur Universität brachte und abends wieder zurück – ohne Kontakte zu Menschen aus anderen Vierteln zu haben. Sie fühlte sich, als wäre sie noch immer in den USA. Dort wurden die Gated Communities in den 70ern populär und heutzutage leben mehr als 10 Millionen Amerikaner in geschlossene Wohnanlagen.
Aber die Gated Communities scheinen eine der weltweit erfolgreichsten Behausungen geworden zu sein. (wie es sich nicht mehr gesehn hat seit der Zeit, in der der Mensch in den Grotten gewohnt hat). In Brasilien heißen sie „condomínio fechado“ (geschlossene Wohnsiedlung), in Argentine „barrios privados“ (private Stadtviertel), in Sudafrika „security village“ (Sicherheits-Dorf), unterschiedliche Worte für dasselbe Wohnkonzept für die globale Oberschicht. Laut der Zeitschrift Tempo wohnten 2003 mehr als 70.000 Istanbuler in Gated Communites. Heute kann man von weit mehr ausgehen, da in den letzten Jahren auch die Mittelschicht ihren Traum vom Leben hinter Mauern realisiert hat.
Als Anne mit den Sicherheitsbeamten ins Gespräch kam, fand sie heraus, dass diese in dem benachbarten Stadtvierteln wohnten. Ihre Aufgabe ist also, die Site-Bewohner vor ihresgleichen zu schützen: vor ihren eigenen Familien, Freunden und Nachbarn. Anne war nicht gekommen, um diesen Teil der Türkei kennen zu lernen. Sie packte ihre Koffer und zog in ein anderes Stadtviertel.
Weil die BewohnerInnen Wohnungen mit schönem Ausblick schätzen, entstehen die geschlossenen Wohnanlagen meistens im Hinterland von Istanbul, zwischen Feldern und traditionelleren Stadtvierteln. Noch vor fünf Jahren gab es Felder und Weiden wo jetzt die Bogazici Evler stehen: die Bauern, deren wirtschaftliche Grundlage zerstört wurde, arbeiten jetzt als Sicherheitsbeamte oder in den Gärten der Wohnanlagen und die Frauen kehren die Treppenhäuser. Weiter als die Treppenhäuser werden sie aber nie kommen. Die Mauern, die auf ihren ehemaligen Feldern wachsen, werden sie nie bezwingen.
Nicola Brocca und Martina Loth
November 2011
weiterführende Literatur:
Aydin Yönet N., Yirmibesoglu F. 2008, Gated Communities in Istanbul: Security and Fear of Crime.
Quelle: www.soc.cas.cz/download/993/paper_aydin%2520yonet_yirmibesoglu_W08.pdf
Soja, E.W. 2000, Postmetropolis: Critical Studies of Cities and Regions, Blackwell, Oxford.
Dervis P., Tanju B, Tanyeli U. 2008, Becoming Istanbul: eine Enzyklopädie, DAM, Frankfurt.
process of Istanbul, 42nd ISoCaRP Congress. Quelle: http://www.isocarp.net/Data/case_studies/881.pdf
Baycan-Levent· T., Ahu Gülümser A. (2007) Gated Communities in Istanbul: The New Walls of the City. Quelle: http://www.feem.it/Feem/Pub/Publications/EURODIVPapers/default.htm
Comments are closed, but trackbacks and pingbacks are open.