Seit der Antike wurden Menschen mit „Behinderung“ als gesonderte Gruppe definiert. Dies wurde von Anfang an mit einer normativen Wertung verbunden, die eng mit der jeweils kulturell und sozial herrschenden Ordnung zusammenhing. Beispielsweise sprach sich Aristoteles für die Züchtung eines Idealmenschen und der Auslöschung „Behinderter“ aus. Religiöse Weltbilder wiederum verstanden „Behinderung“ als göttliche Strafe für sündhaftes Verhalten. Mit dem Beginn der Aufklärung und einer zunehmend wissenschaftlichen Weltdeutung veränderte sich „Behinderung“ zu einem pathologischen Phänomen in Abgrenzung zum „Gesunden“ und „Normalen“. Unabhängig von der jeweiligen Zeitepoche, zeichnen sich zwei Arten der Mehrheitsgesellschaft ab, mit „behindertem“ Leben umzugehen: Einerseits mit Heilungsvorstellungen, beispielsweise durch rehabilitative oder medizinische Maßnahmen und Eingriffe, und andererseits durch Auslöschungsvorstellungen, wie sie beispielsweise in der Euthanasie-Praxis des NS-Regimes ihren Höhepunkt fanden.
In der Wissenschaft verschoben die Disability Studies seit den 1980er Jahren den Schwerpunkt vom Behindert-Sein auf das Behindert-Werden. Es wird dabei zwischen impairment (individuelle Schädigung) und disability (sozio-kulturelle „Behinderung“) unterschieden. Unabhängig von alltäglichen körperlichen Erfahrungen, wie beispielsweise Schmerzen oder Atemnot, geht disability davon aus, dass erst gesellschaftliche Barrieren „Behinderung“ verursachen, indem sie abweichende körperliche oder geistige Bedarfe ausschließen. Beispielsweise kann dieser Text einen sehgeschädigten Menschen „behindern“. An dieses Verständnis vom Behindert-Werden knüpften vor allem in den 1970er und 1980er Jahren emanzipatorische Bewegungen an und forderten von Gesellschaft und Politik eine gleichberechtigte Teilhabe. Als ein aktuelles Ergebnis der sozialpolitischen Forderungen lässt sich die Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention von 152 Staaten nennen (Stand: 21. März 2015), auch wenn die konsequente Umsetzung oftmals noch vernachlässigt wird.
Im angelsächsischen Raum rückte neben disabilty auch impairment als sozial konstruierte Kategorie in den Blick. Die individuelle Schädigung, welche bisher als natürlich gegeben angesehen und damit nicht hinterfragt wurde, tritt hier als eine diskursiv erschaffene Kategorie in den Vordergrund: Der „behinderte“ Körper ist nicht Gegenstand von Diskursen, sondern wird erst durch diese hervorgebracht. Dabei wird insbesondere der medizinische Blick analysiert und die Einteilung von „normal“ und „gesund“ im Gegensatz zu „behindert“ und „krank“ in Frage gestellt.
Hieran anknüpfend kritisiert das Konzept ableism die Bewertung von Menschen aufgrund ihrer Fähigkeiten. Beispielsweise sei der Mensch im Zusammenhang mit der Industrialisierung auf die Verwertbarkeit seiner Arbeitsleistung reduziert worden. Der leistungsfähige Körper, der Zwölfstunden-Schichten in der Fabrik ableisten konnte, wurde zur Norm erklärt. Dem daheimgebliebenen Körper blieb demgegenüber nur noch die Rolle des Invaliden (von lat.: invalidus: krank, schwach, wertlos).
Wer als „behindert“ identifiziert wird hängt von der kulturell definierten Norm ab. Was als „normal“ gilt, hängt wiederum von ästhetischen Vorstellungen und praktischen gesellschaftlichen Erfordernissen ab. Eine allgemeingültige Definition von „Behinderung“ lässt sich nicht erstellen, da Kultur zeit– und raumgebunden ist – und damit auch „Behinderung“. Begreift man Behindert-Werden als einen diskriminierenden Akt gegenüber einer sozial konstruierten Gruppe, betrifft dies weit mehr Leute als es die alltägliche Verwendung des Begriffs „Behinderung“erahnen lässt. So kann man vor diesem Hintergrund sagen, dass beispielsweise Frauen aufgrund der ihnen zugeschriebenen Mutterrolle oder Personen mit einem ausländisch klingenden Namen in der Arbeitswelt „behindert“ werden.
Jan Diebold und Philmon Ghirmai, September 2015