fremd [mhd. vrem(e)de, ahd. fremidi, zu einem untergegangenen Adv. mit der Bed. »vorwärts; von — weg« (verw. mit ver-) u. eigtl. = entfernt]: 1. nicht dem eigenen Land od. Volk angehörend; von anderer Herkunft: –e Länder, Sitten; eine –e Währung; –e Sprachen lernen. 2. einem anderen gehörend; einen anderen, nicht die eigene Person, den eigenen Besitz betreffend: –es Eigentum; das ist nicht für –e Ohren bestimmt; etw. ohne –e Hilfe schaffen. 3. a) unbekannt, nicht vertraut: –e Leute; in –er Umgebung leben müssen; Verstellung ist ihr f. (sie kann sich nicht verstellen); ich fühle mich hier f. (kann mich hier nicht einleben); ich bin f. hier (kenne mich hier nicht aus, weiß hier nicht Bescheid); sie sind einander f. geworden (verstehen sich nicht mehr); b) ungewohnt; nicht zu der Vorstellung, die jmd. von jmdm., etw. hat, passend; anders geartet: das ist ein –er Zug an ihr. (Quelle: Duden Großes Universalwörterbuch).
Auf den ersten Blick scheint das Adjektiv fremd nichts anderes zu sein als die neutrale Abgrenzung vom Eigenen, Bekannten. Ein fremder Mensch ist demnach eine Person, die einem nicht bekannt ist oder deren Verhalten oder Aussehen nicht vertraut, sondern befremdlich wirkt. In einer weiteren Bedeutung heißt fremd, dass jemand anderer Herkunft ist oder eine andere Staatsangehörigkeit besitzt. Dies zeigt sich etwa darin, dass Arbeitsmigranten in Deutschland lange als „Fremdarbeiter“ bezeichnet wurden oder dass in einigen Pensionen in Deutschland auch heute noch „Fremdenzimmer“ gemietet werden können.
Ob jemand als fremd bezeichnet wird, hängt jedoch nicht von allgemein gültigen Merkmalen ab. Ein „Fremder“ muss zunächst nur ein Kriterium erfüllen: Er muss in den Augen der anderen auffallen. Bei dem Adjektiv fremd handelt es sich deshalb um ein Wort, das nicht die Eigenschaften der beschriebenen Person oder Sache darstellt, sondern das Rückschlüsse auf die Perspektive derjenigen Person zulässt, die es verwendet.
Fremdheitszuschreibungen gehen daher immer mit einer Wertung einher, die entweder ein Bedrohungsgefühl oder eine exotische Imagination bedeutet. Ein Beispiel dafür sind zahlreiche Reiseführer oder Reisekataloge, die mit dem Begriff fremd all das bezeichnen, was Faszination und Phantasien wecken soll. Zum Beispiel lässt der Buchtitel „Indien von innen: Rätselhaft magisch – wundersam fremd“ dem Leser exotische Welten vor dem inneren Auge entstehen, ganz so, wie er sie sich vorstellt. Ein deutscher Reiseunternehmer dagegen bewirbt eine Äthiopienreise damit, dass man dort „fremdartige und faszinierende Stammesrituale“ kennen lernen könne. Das Adjektiv fremd sagt dabei jedoch nichts über die Lebenswelten in Indien oder Äthiopien aus. Stattdessen werden die eigenen Sehnsüchte und Träume von einem neuen, anderen Leben auf das jeweilige Kaufangebot übertragen. Nicht umsonst galt etwa die „orientalische Haremsdame“ lange als die Erfüllung erotischer Träume, da die europäische Männerwelt mit ihren sexuellen Fantasien, die sie in ihren eigenen gesellschaftlichen Strukturen nicht ausleben konnte, eine „fremde Welt“ der freien Liebe und Laszivität schlicht erfand, völlig unabhängig davon, wie das Leben in einem Harem tatsächlich aussah. Dass trotz aller Projektion damit immer auch eine kulturelle Abwertung einherging, erklärt sich von selbst.
Neben der Vorstellung einer „faszinierenden Fremdheit“ tauchen also häufig auch negative Assoziationen auf: Als die Bildzeitung in den 1980er Jahren eine Serie mit dem Titel „Unsere Ausländer – Fremde oder Freunde?“ betitelte, hatte die Redaktion sicherlich keine positive oder Neugier weckende Verklärung von Migranten im Sinn. Allein der Umstand, dass die Alternative zum Fremden der Freund sei, zeigt, dass der Fremdheitsbegriff hier in direkte Verbindung zur Angst vor dem Fremden, der Xenophobie, gesetzt wird. Die in rechten Kreisen häufig prognostizierte Gefahr der „Überfremdung durch Ausländer“ macht eine als Bedrohung wahrgenommene Fremdheitsvorstellung ebenfalls deutlich. Oder, um mit Methusalix zu sprechen: „Ich hab’ nichts gegen Fremde. Aber diese Fremden sind nicht von hier!“
Wer als fremd wahrgenommen wird, hängt also immer von der eigenen Identitätsvorstellung und den eigenen Lebenserfahrungen ab. Bei der Projektion eigener Ängste oder Sehnsüchte auf die als fremd titulierten Personen, Gegenstände oder Denkmuster besteht allerdings die Gefahr, dass diese reduziert werden auf eine Negativfolie zum Eigenen. Diese Reduktion kann so wirkungsvoll sein, dass als fremd wahrgenommene Personen selbst auf die Vorurteile zurückgreifen, die ihnen entgegen gebracht werden: Ein Besuch in einem italienischen oder griechischen Restaurant genügt, um herauszufinden, welche Stereotype sich über Griechen und Italiener in der deutschen Gesellschaft durchgesetzt haben. Erst, wenn man seine eigene kulturelle Identität zu reflektieren lernt, ist es möglich, „Fremdes“ unter differenzierten Gesichtspunkten kennen zu lernen.
Angela Siebold, November 2010