Iden|ti|tät, die; -, –en [entlehnt von spätlat. identitas ((Wesens-)Einheit) und lat. idem, eadem, idem (ebender, ein und derselbe)]: 1. Vollkommene Übereinstimmung zweier Dinge oder Personen; 2. a. Echtheit; b. eindeutiges Unterscheidungsmerkmal einer Person oder einer Sache von einer anderen.
Im Zuge der Aufwertung des Individuums während der Aufklärung entstand das Konzept der personalen Identität. Dabei konkurrierten zwei Perspektiven. Die transzendentale Sicht schrieb dem Mensch a priori eine feste personale Einheit und Kontinuität zu. Die entgegengesetzte Sichtweise machte Zweifel an dieser Kohärenz einer Person geltend, da eigene empirische Beobachtungen die Wandelbarkeit menschlicher Persönlichkeiten aufgezeigt hatten. Mit dem Aufkommen der modernen Sozialwissenschaften (z.B. neoklassische Ökonomie) im 19. Jhd. wurde letztere Sicht verworfen und allein das rationale und damit kohärente und konstante Individuum fokussiert. Die personale Einheit wurde nicht mehr in Frage gestellt, sondern als gegeben akzeptiert. Diese Auffassung setzte sich auch im bürgerlichen Verständnis von Identität durch, welches eine vollentwickelte und stabile Persönlichkeit voraussetzte. Zusätzlich wurde der Sprachgebrauch um das Verb „identifizieren“ [entlehnt von franz. identifier] erweitert, was so viel bedeutet, wie „etwas genau wiedererkennen; die Identität einer Person feststellen“.
Im 20. Jhd. entfernte sich das soziologische vom aufklärerischen Verständnis, indem es den Wesenskern einer Person als durch soziale Interaktionen form– und veränderbar betrachtete.
Eine endgültige Loslösung von der essentialistischen Vorstellung eines einheitlichen Wesenskerns erfährt das Identitätsverständnis seit Ende des 20. Jhd. durch postmoderne Ansätze. Bei diesen ist das Interesse vor allem auf kollektive Identitäten (auch: soziale, kulturelle oder Wir-Identität) und weniger auf personale Selbstbilder einer Person gerichtet. Kollektive Identitäten beziehen sich auf all jene Aspekte, welche die Zugehörigkeit eines Subjekts zu bestimmten Gruppen festlegen. Nationalität, Ethnizität, Lokalität, Religion, Gender oder Sprache zählen zu solchen identitätsstiftenden Merkmalen. Integration in die Gruppe und gleichzeitige Abgrenzung nach Außen bilden dabei die Eckpfeiler kollektiver Selbstverortung. Identitäten gelten fortan als veränder– und in sozialen Interaktionen aushandelbar. Sie sind vielschichtig, fragmentiert und situativ.
Ein Mensch kann sich zu mehreren, sich sogar widersprechenden Gruppen zugehörig fühlen und je nach Situation auf unterschiedliche Fragmente seiner Identität zurückgreifen. Identitätsbildung ist ein stetiger Prozess, der nie abgeschlossen wird, sondern immer Teil seiner diskursiven Umgebung ist. Postmoderne Ansätze werden damit den gegenwärtigen globalen Veränderungen gerecht: Durch Globalisierung und weltweite Migration sehen sich die Menschen einer wachsenden Anzahl unterschiedlicher Identifikationsmöglichkeiten gegenüber – auch über große Distanzen hinweg. Die gegenwärtigen Globalisierungstheorien verstehen Identität demnach als hybride Konstrukte, die viele verschiedene Elemente, Geschichten und Bedeutungssysteme aus unterschiedlichen Gesellschaften und Regionen der Erde vereinen und zu etwas Neuem verschmelzen lassen. „Hybridisierung“, „Kreolisierung“ und „Transkulturalismus“ bilden so eine konzeptuelle Alternative zu dem essentialistischen Identitätsverständnis: Indem sie die Wandelbarkeit und Konstruiertheit von Identitäten betonen, lösen sie die Vorstellung vom unveränderbaren Wesenskern, der eine kreative Vermischung von Identitäten und Kulturen unmöglich mache, ab.
Oft wird in diesem Kontext ein Unterschied zwischen migrantischen und nicht-migrantischen Identitäten gemacht, da erstere stärkeren Umwandlungsprozessen ausgesetzt und damit hybrider scheinen als letztere. Diese Begründung läuft aber Gefahr, nicht-migrantische Identitäten zu essentialisieren und die globalen Einflüsse auf diese zu übersehen. Der entscheidende Unterschied liegt stattdessen in einem anderen Aspekt der Identitätsbildung: Identitäten konstituieren sich immer in einem Spannungsfeld zwischen Selbst– und Fremdzuschreibungen. Da das Verhältnis zwischen MigrantInnen und Mehrheitsgesellschaft meist asymmetrisch ist, sehen sich erste vermehrt Fremdzuschreibungen durch letzte ausgesetzt. Zusätzlich zu solchen dominanten Fremdzuschreibungen können auch soziostrukturelle und ökonomische Faktoren die Identifikation und das Zugehörigkeitsgefühl zu einer bestimmten Gruppen festlegen, einschränken oder verhindern.
Ob personales Selbstbild oder kollektive Zugehörigkeit — Identitäten konstituieren sich nicht isoliert innerhalb einer Person, sondern entstehen immer in sozialen Interaktionen mit anderen Personen und Gruppen und unterliegen demnach auch den strukturellen und diskursiven Rahmenbedingungen.
Jan Diebold und Friederike Faust
November 2011