Mi|gra|ti|on, die; -, –en [lat. migratio = (Aus)wanderung, zu: migrare = wandern, wegziehen]: 1. (Zwischenstaatlicher) Wohnsitzwechsel von Menschen od. Tieren 2. Physik: Wanderung von flüssigen oder gasförmigen Stoffen in einem porösen Material (z.B. Weichmachern in Kunststoffen oder Erdöl in Gestein)
Wie der lexikalische Eintrag zeigt, finden Migrationsprozesse auf verschiedenen Ebenen statt. Migration ist ein Phänomen, welches in der Physik, der Biologie und der Soziologie allgegenwärtig ist. Die Geschichte der Menschheit wäre ohne Migration undenkbar. Erst die kollektiven Wanderungen unserer Ahnen in urgeschichtlicher Zeit führten zu einer Ausbreitung der menschlichen Art über alle Kontinente. Die großen Wanderungsbewegungen europäischer Stämme im 4. und 5. Jahrhundert führten zum Zusammenbruch des Römischen Imperiums und markieren damit den Wendepunkt von der Antike zum Mittelalter. Auch bei der Charakterisierung des Beginns der Neuzeit wird der Migration eine essentielle Rolle zugeschrieben. Das wird dadurch verdeutlicht, dass der Beginn der Epoche allgemein 1492 mit der „Entdeckung“ und der Besiedlung Amerikas angesetzt wird.
Während die aufgeführten Wanderungsprozesse für alle Menschen als „normales“ Verhalten verstanden wurden und werden, wird der Begriff Migration heute nicht mehr in Bezug auf die BewohnerInnen des „Nordens“ verwendet. Für Letztere stellen längere Aufenthalte im Ausland einen Prestigegewinn dar. Dagegen gilt die umgekehrte Ein-/Auswanderung von BewohnerInnen des „Südens“ als bedrohliche Abweichung vom europäisch definierten „Normalzustand“.
Der Grund für diesen Bedeutungswandel liegt in der „Erfindung der Nation“ in Europa seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert und dem damit einhergehenden Kulturverständnis. Ein Nationalstaat wird seither als ein klar abgegrenztes Territorium verstanden. Grenzüberschreitende Migration gefährdet somit ein Kernelement der nationalen Souveränität – die Kontrolle über das Staatsterritorium. Zudem ist die Idee der Nation verbunden mit der Vorstellung einer ethnisch und kulturell definierten „Volksgemeinschaft“, welche sich klar von anderen „Völkern“ abgrenzen lässt. Da jeder so definierten Kulturgemeinschaft besondere Eigenschaften zugesprochen werden, wird immer wieder deren „Reinerhaltung“ propagiert. Transkulturelle Austauschprozesse erscheinen dann als Bedrohung für die „natürliche“ homogene Ordnung.
Der Begriffswandel erfuhr im Europa der Nachkriegszeit eine Dynamisierung. Der wirtschaftlich wieder erstarkte Kontinent fühlte sich zunehmend als globales Ziel von Migrationsströmen aus den ärmeren Weltgegenden des Osten und des Südens. Die Debatten um die „Gastarbeiter“ in den mitteleuropäischen Industrienationen seit den 1950er Jahren sind ein Beispiel für die emotionalisierte und unsachliche öffentliche Wahrnehmung von Migration. Die Angst vor „Überfremdung“ steigerte sich in der Asyldebatte der 1980er Jahre weiter. In den öffentlichen Diskussionen wurden Ängste geschürt, dass MigrantInnen aus dem Süden die gut ausgebauten europäischen Sozialsysteme ausbeuten wollten, ohne einen eigenen Beitrag zu leisten. Migration als innereuropäisches Problem erfuhr mit dem Ende des Kalten Krieges und der Furcht einer Westwanderung der BürgerInnen des ehemaligen Ostblocks eine weitere Dimension. In den letzten zwei Jahrzehnten dominierten in hitzigen Debatten aber vor allem Wanderungsbewegungen aus dem globalen Süden in den globalen Norden. Anlass zu neuen kollektiven Ängsten der EuropäerInnen bietet dabei die vor allem in den „Entwicklungsländern“ rapide wachsende Bevölkerung.
Während die Wahrnehmung von Migration einen enormen Wandel erfahren hat, ist das Phänomen das Gleiche geblieben. Die Folgen des Klimawandels, der Globalisierung und das wachsende Nord– Süd-Gefälle bieten zwar neue Anlässe zu emigrieren, aber die Motive der Menschen liegen seit jeher in Kriegen, religiöser und politischer Verfolgung sowie mangelnder wirtschaftlicher Perspektive. Die skandalisierenden öffentlichen Debatten über das Phänomen Migration führen zu einer Vielzahl weiterer Fehlannahmen. Die Vorstellung, dass es die MigrantInnen aus dem „Süden“ in den „Norden“ zieht ist falsch. Der weitaus größte Teil grenzüberschreitender Wanderungsbewegungen findet innerhalb der Staaten des „Südens“ statt. Ein weiterer Aspekt, der vollkommen unbeachtet bleibt ist die Binnenmigration, obwohl es momentan weltweit etwa 50 Millionen innerstaatliche Flüchtlinge gibt.
Die mediale Aufarbeitung der „illegalen EinwanderInnen“ als große Bedrohung für die Wohlstandsgesellschaften des „Nordens“ ist ebenso unvollständig. Viele europäische und nordamerikanische Wirtschaftszweige sind auf diese MigrantInnen angewiesen, da sie zu niedrigsten Löhnen und unter Umgehung der Arbeitsgesetzgebung beschäftigt werden können.
Bei der skizzierten Verwendung des Migrationsbegriffes deuten sich vielerlei Brüche und Unstimmigkeiten an.
Da Menschen während der gesamten Geschichte migrierten und die Anreize hierfür keineswegs geringer werden, ist zu erwarten, dass Migration auch zukünftig ein nicht zu unterbindendes globales Phänomen bleiben wird. Dies anzuerkennen ist eine wichtige Voraussetzung, um eine sachliche und vorurteilsfreie Diskussion führen zu können. Dann können wir auch die Beschränkung des Migrationsbegriffes auf Elendsflüchtlinge aus dem Süden überwinden. Stattdessen könnten die umgekehrte Wanderbewegung vom „Norden“ in den „Süden“ sowie vermeintlich positive Motive wie Familie, Partnerschaft und Beruf in den Blick genommen werden.
Jan Diebold und Philmon Ghirmai
April 2011