Orient/Orientalismus
Orient, der, -, — [von lat. oriens, Partizip Präsens von oriri‚ „aufgehen, sich erheben“]: 1. Vorder– und mittelasiatische Länder, 2. (veraltet) Osten
Der Begriff des Orient bezog sich zu römischer Zeit auf die östlich des Mittelmeers gelegenen Länder, grundsätzlich also auf Gebiete, die sich aus Sicht des Betrachters in Richtung der aufgehenden Sonne befanden (analog „Morgenland“). Die Griechen hatten zuvor die Abgrenzung zwischen Europa und dem als weniger zivilisiert empfundenen Asien als kulturelle Unterscheidung getroffen. Mit der arabisch-muslimischen Expansion erhielt der Begriff neue Bedeutungsebenen, denn der Orient erweiterte sich sowohl z.B. auf Nordafrika, rückte aber geographisch ebenso in den „Okzident“ vor, etwa auf der spanischen Halbinsel.
Die Geschichte der europäischen Beschäftigung mit dem Orient war lange Zeit von einer empfundenen Gegnerschaft geprägt, die sich seit dem Auftreten des Islam auf diese Religion und ihre Angehörigen fokussierte. Nach den zahlreichen unerwarteten Niederlagen bis zu den Kreuzzügen entstand in Europa der Bedarf nach näherer Kenntnis des Gegenübers. So kam es im 12. Jahrhundert zur ersten Koran-Übertragung, um die als Häretiker eingestuften Muslime besser zu verstehen.
Mit der Reformation trat ein erster Wandel in die Beschäftigung mit dem Nahen und Mittleren Osten ein. Die Lehre der „biblischen Sprachen“ Griechisch, Hebräisch und Aramäisch als Zugang zu den Original-Texten der Evangelien wurde gefördert, und damit ein erster neutraler Zugang zum orientalischen Kulturraum geschaffen. Fast zeitgleich nahmen die Handelsbeziehungen Europas mit den nahöstlichen Ländern zu. Aus dem Bedarf an Experten für Handel und Diplomatie entstanden in Frankreich und Holland bedeutende Lehrtraditionen. Im Zuge der europäischen Aufklärung und durch die erste Übersetzung von 1001 Nacht entwickelte sich dann ein zwar positiveres, aber auch exotisierendes Orient-Bild.
Mit dem Aufkommen des Kolonialismus veränderte sich erneut das Verhältnis zum Orient. So begann mit Beginn der britischen Herrschaft in Indien seit 1760 eine Beschäftigung mit den orientalischen Sprachen, die der Verwaltung der unterworfenen Gebiete dienen sollte. Nur etwa zwanzig Jahre später unternahm Napoleon die militärische und zugleich wissenschaftliche Expedition nach Ägypten, und initiierte damit eine Unterwerfung bei gleichzeitiger geistig-wissenschaftlicher Erfassung des Orients.
Im 20. Jahrhundert vollzog sich schließlich ein Wandel von der Lehre der orientalischen Sprachen zu einer kulturwissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Orient, der als Begriff bald darauf einen Bedeutungsverfall erlebte.
Saids Kritik: Der Orientalismus
1978 machte der Literaturwissenschaftler Edward Said mit seinem Buch „Orientalismus“ Furore. Den Orient gebe es nicht, er sei lediglich eine Erfindung des Westens, so seine These. Said kritisiert, dass die als orientalisch bezeichneten Gesellschaften unter einer geistigen Definitionsmacht des „Westens“ stehen. Diese habe sich aus der vorausgegangenen faktischen Herrschaft der imperialen Mächte in der Zeit des Kolonialismus entwickelt. Die Intellektuellen der westlichen Kolonialmächte schufen den Orient geradezu durch ihre Beschreibung desselben, was Said durch zahlreiche Beispiele aus der Literaturwissenschaft belegte. Gleichzeitig griff er zeitgenössische philosophische Tendenzen wie etwa die gedankliche Konstruktion eines „Anderen“ auf. Sein Werk gilt auch als „Gründungsdokument“ der postkolonialen Studien.
Durch die Debatten um Orientalismus hat sich eine kritische Haltung gegenüber dem Konzept des Orient in der akademischen Welt etabliert. Vor diesem Hintergrund haben sich im internationalen Kontext die Area-Studies entwickelt (z.B. Near and Middle Eastern Studies, Afrikastudien, Osteuropastudien), während in Deutschland Institute teilweise noch den Orient in ihrem Namen tragen, so in Heidelberg beim hiesigen „Seminar für Sprachen und Kulturen des Vorderen Orients“.
Jan Becht, Juni 2011
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