
Schmelztiegel Israel?
Identitätssuche und Konflikte in einem jungen Staat
Israel demonstriert — für soziale Gerechtigkeit, gegen die Verdrängung der Frauen aus dem öffentlichen Raum, gegen Geschlechtertrennung im öffentlichen Personennahverkehr, gegen geöffnete Parkhäuser am Shabbat, für geöffnete Parkhäuser am Shabbat, für Frieden mit den Palästinensern, für die Räumung der Siedlungen, gegen die Räumung der Siedlungen — wer versteht da eigentlich noch, um was es geht? Wer kämpft gegen weg? Wer demonstriert gegen was?
Während man Israel über die Medien hauptsächlich als einen Akteur mit klaren Interessen kennt, sieht die soziale Wirklichkeit anders aus: Verschiedene Gruppen versuchen ihre Interessen durchzusetzen — so gibt es nicht nur den Konflikt zwischen dem jüdischen Israel und den Palästinensern, die israelische Gesellschaft ist auch in sich gespalten, gegensätzlich und reich an potentiellen und tatsächlichen Konfliktquellen. Aufgrund der bewegten Geschichte des Staates als Einwanderungsland ist die nationale Identität komplex, dynamisch und sorgt für hitzige Diskussionen.
Ein Blick zurück: Der historische Zionismus
Ende des 19. Jahrhunderts begann die jüdische Einwanderung nach Israel. Vereinzelte Dörfer und Kibbutzim wurden von den zionistischen Pionieren gegründet, die meistens aus Europa kamen. Diesen Zeitraum vor der Staatsgründung nennt man Yishuv. Die frühen Zionisten waren säkulare Sozialisten: ihr Ziel war ein ethischer, demokratischer und sozialistischer Staat, der zwar eine Heimstätte für Juden sein sollte, aber keineswegs religiös. Palästina, wie es damals hieß, stand unter britischem Mandat. Zur Zeit des Yishuvs gab es noch regen Kontakt zwischen Juden und Arabern im ‚Heiligen Land‘, wenn auch die gewaltsamen Auseinandersetzungen zunahmen. Nach der Staatsgründung im Jahr 1948, dem Rückzug der Briten und dem darauffolgenden Krieg wurde der Grundstein für eine von Gewalt gezeichnete Staatsgeschichte gelegt: Die letzten 64 Jahre waren geprägt durch Konflikte, Kriege, Unterdrückung, Terrorismus und gegenseitige Vergeltungsschläge.
Juden und Araber – Inklusion und Exklusion im öffentlichen Leben
Das Verhältnis zwischen Juden und Arabern in Israel hat verschiedene Stadien durchlaufen — frei von Konflikten war es nie. Die Kategorien ‚Juden‘ und ‚Araber‘ sind bereits nicht eindeutig, trotz dass sie oft so verwendet werden: Denn während ‚jüdisch‘ sich auf die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft bezieht, definiert ‚arabisch‘ dagegen die Zugehörigkeit zu einer Sprachengemeinschaft. Neben den Palästinensern, die in den palästinensischen Gebieten leben, gibt es auch in Israel Araber, die israelische Staatsbürger sind. Diese sind mehrheitlich Muslime, aber es gibt auch Christen, Drusen und Beduinen. Während die kleineren Gruppen der Drusen und Beduinen ihre Wehrpflicht im israelischen Militär leisten können und somit bessere Möglichkeiten zur Integration in die israelische Gesellschaft haben, sind christliche und muslimische Araber, die die deutliche Mehrheit der arabischen Bevölkerung Israels ausmachen, hiervon ausgeschlossen. Sie sind von vielen Einschränkungen und Diskriminierungen betroffen. So werden sie beispielsweise am Flughafen oder an Eingängen zu Kaufhäusern und Restaurants öfter und intensiver durchsucht, finden schwerer Arbeit, stehen in vielen Situationen unter Generalverdacht und sind von vielen öffentlichen Aktivitäten, die die jüdisch-israelische Identität betonen, ausgeschlossen. Dennoch versuchen viele arabische Israelis sich unter großen Mühen zu integrieren. Andere bauen ihre Identität auf Symbolen des palästinensischen Widerstands auf und verbünden sich — gedanklich oder tatsächlich — mit anderen Ausgegrenzten.
Die Herausforderungen der Massenimmigration
Aus allen Ländern der Welt sind im Laufe der letzten 150 Jahre Juden nach Israel eingewandert: aus Europa, Nordafrika, Nord– und Südamerika und dem Nahen Osten. All diese Einwanderer haben ihre Regionalkultur mit nach Israel gebracht, sowie ihre eigene Vorstellung der jüdischen Religion, ihre eigenen Werte und Gewohnheiten. Dies bedeutet nicht nur einen großen kulturellen Reichtum — es bedeutet auch, dass Meinungen aufeinanderprallen, dass Weltbilder nicht vereinbar sind, dass eine neue gemeinsame Sprache gefunden und gelernt werden muss. Der größte Graben verlief in den ersten Jahrzehnten nach der Staatsgründung Israels zwischen den Juden mittel– und westeuropäischer Herkunft, den Ashkenazi, gegenüber den Juden südeuropäischer Herkunft, den Sefardi, die bald mit den Juden aus arabischen Ländern, den Misrachi, zusammen als eine Gruppe verstanden wurden — als eine Gruppe tendenziell weniger gebildeter, konservativerer und lange Zeit als unterlegen wahrgenommener Menschen. Die Ashkenazi haben von Anfang an die Geschicke des Staates gelenkt, sie waren vornehmlich in politischen und wirtschaftlichen Führungspositionen vorzufinden. Die Diskriminierung der Misrachi und Sefardi wurde inzwischen größtenteils überwunden — wenngleich Bildungsniveau und Einkommen immer noch nicht dem der Ashkenazi entsprechen. Dennoch tut die zunehmende Durchmischung der Bevölkerung ihr Übriges dazu, um diese Gegensätze verwischen zu lassen.
Religion und Politik: Ultraorthodox, Nationalreligiös, Säkular…?
Schwieriger zu verwischen ist der Gegensatz zwischen religiösen und säkularen Juden, es findet eher eine Verhärtung der Fronten statt. Ultraorthodoxe (= sehr streng religiöse) Juden pflegen einen Lebensstil, der sich stark an den religiösen jüdischen Schriften orientiert, an Torah, Talmud, Mishna und Halacha. Familiäre und traditionelle konservative Werte sind zentral für sie, viele Elemente des modernen Lebens werden gemieden und aus den religiösen Stadtvierteln verbannt. Orthodoxe Familien leben meist von Sozialhilfe oder vom Einkommen der Frauen, die nicht in die Tora-Schule gehen. Nicht nur diese Tatsachen erregen den Ärger der säkularen Bevölkerung — auch die Tatsache, dass Orthodoxe von dem zwei– bis dreijährigen Militärdienst befreit sind, der obligatorisch für alle Israelis ist, Frauen wie Männer.
Die Unterschiede bezüglich gesellschaftlicher Rechte und Pflichten entstammen einer Übereinkunft zwischen Religösen und Säkularen aus der Zeit der Staatsgründung: Während säkulare jüdische Israelis Steuern zahlen und Militärdienst leisten, betätigen sich die religiösen jüdischen Israelis im Gebet und der Verrichtung religiöser Pflichten und sind für das Seelenheil aller jüdischer Israelis verantwortlich.
Erlösung im Austausch für Sicherheit und soziale Leistungen. Diese Übereinkunft steht im Angesicht jüngster Konflikte immer mehr vor der Zerreißprobe: Radikale ultraorthodoxe Splittergruppen reagieren zunehmend aggressiv auf Verstöße gegen religiöse Gebote, wie beispielsweise das Autofahren am Shabbat, oder die Präsenz von Frauen in der öffentlichen Sphäre, sei es in der Werbung oder durch vermeintlich ‚unzüchtige‘ Kleidung. Säkulare Israelis wollen die Einschränkungen ihrer zivilen Freiheiten in der öffentlichen Sphäre nicht hinnehmen.
Viele orthodoxe Juden akzeptieren den israelischen Staat nicht, da sie ihn als weltliche Autorität in Israel für Gotteslästerung halten. Im Parteienspektrum Israels sind sie daher weder links noch rechts anzusiedeln. Dies gestaltet sich bei den Nationalreligiösen anders: In ihrer Ideologie vermischen sich religiöse und politische Elemente. Sie sind oft in rechten bis rechtsextremistischen Parteien und unter Siedlern zu finden. Ihrer Ansicht nach hat Israel als jüdischer Staat auch ein originäres Anrecht auf die palästinensischen Gebiete. Einen palästinensischen Staat wollen die Nationalreligiösen ebensowenig akzeptieren wie die Aufgabe der Siedlungen oder andere Zugeständnisse an Palästinenser oder israelische Araber.
Säkulare und eher links stehende Israelis haben weniger charismatische Leitfiguren als die Orthodoxen oder die Nationalreligiösen sowie eine weniger klare Agenda. Oft sehen sie sich in der sozialistisch-zionistischen Tradition der Gründungsväter Israels, der Pioniere der ersten Stunde. Sie wollen einen demokratischen Staat für Juden, der auch Menschenrechte achtet. Meist befürworten sie eine Zwei-Staaten-Lösung und eine Räumung der Siedlungen im Westjordanland. Ihre besser organisierten und radikaleren Vertreter organisieren sich im Friedensaktivismus, kämpfen für Rechte der Palästinenser und machen auf Menschenrechtsverletzungen der israelischen Armee aufmerksam. Dies zieht oft den Unmut der israelischen Öffentlichkeit auf sich, welche sich stark mit dem Militär identifiziert und stolz auf das „hohe Niveau“ der israelischen Armee ist — sowohl in Bezug auf Exzellenzansprüche als auch nach ethischen Kriterien.
Neue Einwanderungswellen, neue Herausforderungen: Äthiopische Juden und der Zusammenbruch der Sowjetunion
Die jüdischen Einwanderer aus europäischen und arabischen Ländern, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bis in die 1970er Jahre nach Israel kamen, stellen inzwischen keine nach Herkunftsländern abgrenzbare Gruppen mehr dar. Die hebräische Sprache ist bereits Muttersprache von ein bis drei Generationen ihrer Nachkommen und entfaltet ihre integrative Wirkung. Der für alle jungen Israelis obligatorische Militärdienst tut sein Übriges, um die Generationen zusammenzuschweißen, ungeachtet ihrer kulturellen Herkunft. Für die Einwanderungswellen äthiopischer und russischer Juden sieht dies anders aus: Äthiopische Juden wurden in zwei großangelegten Operationen 1985 und 1991 aus dem Sudan und aus Äthiopien nach Israel geflogen, und kämpfen seitdem mit großen Schwierigkeiten bei der Integration in Israel. Kulturelle Unterschiede führen oft zu Missverständnissen und Konflikten: Andere familiäre Strukturen und soziale Hierarchien, in denen die Loyalität älteren Verwandten gilt, schaffen Probleme, wenn sie auf europäisch geprägte israelische Vorstellungen treffen. Aber auch Rassismus vonseiten der israelischen Mehrheitskultur behindert die Integration. Nicht zuletzt gibt es Konflikte innerhalb der äthiopischen Gemeinden: Junge äthiopische Israelis wollen sich der israelischen Mainstream-Kultur anpassen — so kommt es jedoch zu Brüchen mit den älteren Generationen.
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion begann eine Einwanderungswelle enormen Ausmaßes von russischen Juden nach Israel. Viele russische Israelis sprechen nur wenig Hebräisch, leben in russischen Gemeinden und wählen nur diejenigen Parteien, die sich für russische Interessen einsetzen – dies sind vor allem Parteien vom äußersten rechten Rand des Parteienspektrums, die so überproportional viele Stimmen bekommen.
Geht das – katholisch, philippinisch, israelisch? — Neue Konzepte, neue Fragen, neue Wege
In den letzten Jahren wurde noch eine weitere Gruppe präsenter, die sich ebenfalls als Israelis versteht: Gastarbeiter, die vor allem von den Philippinen kommen, um in Israel als Pflegekräfte zu arbeiten. Ihre Kinder sind heute schon teilweise in Israel geboren und sprechen Hebräisch als ihre Muttersprache. Sie sind jedoch keine israelischen Staatsbürger und befinden sich somit in der ständigen Gefahr, abgeschoben zu werden. Derartige Pläne sind in den letzten Jahren von Zeit zu Zeit diskutiert worden und haben national wie international Bestürzung hervorgerufen. Da sie als Filipinos vorwiegend katholisch sind, gleichzeitig aber israelisch sozialisiert wurden, ergibt sich hier eine ganz neue Situation mit neuen, grundsätzlichen Fragen für die israelische Gesellschaft.
Ausblick – was die Gesellschaft im Innersten zusammenhält
Wo bewegt sich diese bunte, komplexe und konfliktreiche Gesellschaft hin? Zwischen den Geistern verschiedener Vergangenheiten ist die israelische Gesellschaft umgetrieben vom Kampf religiöser, politischer und ethnisch motivierter Gruppen gegeneinander für ihre jeweilige Vision der Zukunft. Es wird nicht einfach sein, eine Lösung dafür zu finden, wie unter diesen Vorzeichen das gesellschaftliche Zusammenleben nicht nur irgendwie funktionieren kann, sondern friedlich, demokratisch und gleichberechtigt.
Wieviel Zusammenhalt benötigt eine Gesellschaft, um dies zu erreichen? Was ist der soziale Kitt, der das Vertrauen in die Gerechtigkeit des Austauschs von Leistungen herstellt, auf dem ein Sozialstaat beruht? Nationale, ethnische, religiöse Identität? Eine Leitkultur? Eine Wertegemeinschaft? Zumindest ein kleinster gemeinsamer Nenner ist von Nöten, um ein funktionierendes soziales Miteinander zu schaffen. Denn klar ist: Wenn ein Teil der Gesellschaft nicht mehr an die grundlegende Gerechtigkeit des Austauschs glaubt, wird sich diese kollektive Unzufriedenheit irgendwann Luft machen. Dies zeigen die Zeltproteste in Israel im Sommer 2011 mit mehreren Hunderttausenden Demonstranten auf eindrückliche Art.
Lisa Jenny Krieg für schwarzweiss, 2012
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